Fels in der Brandung.
Junge Männer / Romantik
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Sebastian war nicht über den Berg. Erst machten uns seine Kopfverletzungen Sorgen. Die waren mit der ersten großen Operation bald behoben. Wir beobachteten sein kleines Herz und seine anderen Organe. Die Lunge war das größte Problem. Die wollte nicht richtig. So verbrachte dieses winzige zarte Menschlein seine ersten Monate an der Herz-Lungen-Maschine. Damit sah ich seinen Vater jeden Tag. Nick war in Karenz gegangen und verbrachte seine gesamte Zeit im Krankenhaus. Weil ich der Arzt seines Sohnes war und wir uns ständig begegneten, entstand ein Vertrauensverhältnis zwischen uns. Mir brach es regelmäßig das Herz wenn ich spürte wie sein ganzes Umfeld seine Hoffnungen an mich klammerte, als könnte ich Wunder vollbringen. Nick tat das nicht. Er klammerte nicht. Er vertraute mir.

 

Ich tat für dieses Kind was mir menschenmöglich war. An freien Tagen erkundigte ich mich nach ihm und machte regelmäßig später Feierabend als mein Dienstplan vorschrieb weil ich nicht gehen konnte ohne noch eine Weile nach dem Kleinen gesehen zu haben. Nick schien durch meine Anwesenheit getröstet und beruhigt. Er war ein Wrack. Unterernährt. Übermüdet. Trotzdem wich er dem Kleinkind nie von der Seite. Er gehörte schon zum Inventar und erleichterte dem Pflegepersonal die Arbeit weil er vieles selbst übernahm. Wie er sich um seinen Buben am besten kümmern konnte hatte er schnell gelernt. Sich kümmern zu dürfen gab ihm Sicherheit. Er hatte dabei wenigstens das Gefühl ETWAS beitragen zu können, damit es Sebastian irgendwann besser ging.

Die ganzen Frauen in seinem Umfeld, insbesondere die herrische Schwiegermutter, machten es für ihn nicht besser sondern schlimmer. Ich hörte ihn mit ihr über das Begräbnis diskutieren. Veronikas Mutter erinnerte ihn daran, dass es noch einiges zu organisieren gäbe. Nick hatte mit dem Pfarrer gesprochen und eine einfache und sehr schlichte Beerdigung geplant. Eine Urne, ein paar Worte und danach ins nächstbeste Lokal, um den ganzen Horror schnell hinter sich zu bringen. Dass er auch nur einen Bissen genießen könnte war ohnehin unwahrscheinlich und er tat das nur weil es erwartet wurde und sich so gehörte.

Damit war Veronikas Mutter nicht glücklich und schließlich platzte Nick der Kragen: "Meine Frau hat sich für das Kind geopfert. Sie würde nicht wollen, dass ich meine Zeit anderweitig verbringe als für unseren Sohn da zu sein. Veronika ist tot. Welche Urne und was für Blumen, Fotogaleriepräsentation und Trauerfeier, das spielt alles keine Rolle. Ihr hilft das nicht mehr und mich hält es vom Krankenbett fern. Wer weiß wie lange der Kleine noch lebt. Jede Minute ist so kostbar." "Und dass ich mein Mädchen gerne feierlich beerdigt haben möchte spielt keine Rolle?" fragte sie empört. "Ich hab auch Gefühle, Nick! Mir wurde vor zwei Monaten das Herz heraus gerissen als ich mich zwischen meiner Tochter und meinem ersten Enkel entscheiden musste. Das war der schlimmste Tag meines Lebens! Lass mir das. Lass mir diesen Abschied!"

Sie tat mir leid. Er tat mir noch mehr leid. War ich parteiisch. Ja. Ich konnte nicht anders. Dieser Mann beherrschte meine Gedanken. Mich von ihm abzugrenzen war praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Ich wollte nicht lauschen. Aber ich musste das Kind umsorgen und bekam somit eben die ganze Familientragödie mit. "Wir werden uns von Veronika verabschieden und es wird eine nette Zeremonie sein. Das ganze Tamtam drumherum hat sie nie gewollt und ich hab keine Zeit dafür." "Dann lass mich dir doch helfen." bettelte sie. Er seufzte frustriert. "Es ist alles erledigt und die Einladungen sind raus. Hör bitte auf dich einzumischen. Ich weiß, du meinst es gut. Aber wir brauchen das jetzt nicht."

Seine Schwiegermutter brauchte das Kümmern wohl, es war ihre Art Kontrolle auszuüben. Wahrscheinlich um selber nicht zusammen zu brechen. Jeder trauert auf seine Weise. Sie wollte die Trauerfeier absagen und neu planen, alles komplett anders organisieren. Für Sebastian. Eines Tages würde er nach seiner Mutter fragen und dann würde sie ihm sagen können, dass sie einen würdevollen Abschied bekommen habe. Nick durchschaute ihren Versuch ihn zu manipulieren und bat wiederholt darum einfach in Ruhe gelassen zu werden. "Ich hab weder die Energie noch die Zeit mich um Nonsens zu kümmern, der Veronika nicht zurück bringt und den der Kleine jetzt nicht braucht. Er braucht eine gesunde Lunge. Das braucht er!"

Die Schwiegermutter hängte sich mit den Blicken voller flehender Hoffnung an mich. Wie lange der Kleine wohl noch an der Beatmungsmaschine hängen würde? Ich konnte es ihr nicht sagen und ich sah ihr und ihrem Schwiegersohn an wie schlimm das war. Selbst schlechte Nachrichten sind besser als Ungewissheit. Nichts zu wissen bringt einen schleichend um.

Genauso ging es Nick. Er war ein Fels in der Brandung für Sebastian, hielt seine Händchen, sang ihm vor, streichelte ihn, kniete an seiner Seite und tröstete ihn. Aber hinter dieser Fassade des fürsorglichen Vaters stand ein zutiefst gebrochener Mensch, dem jeden Moment die Kraft ausgehen konnte. Er aß nicht gerade viel und was er zu sich nahm schien sich am Körper nicht gut anzusetzen. Man sah ihm auch einen eklatanten Schlafmangel an. Schwarze Ringe unter den Augen sprachen eine deutliche Sprache. Um seine Lippen waren verhärmte Züge. Das Lächeln, das er seinem Sohn zeigte, erreichte die Augen nicht.

 

Von ein paar Gesprächen wusste ich: Nick lebte neben der Karenz von den Ersparnissen, die seine Veronika und er angespart hatten, um ein Haus für ihre Familie zu bauen. Viele Kinder hatte er sich gewünscht. Ein Heim voller Lachen und Freude. Nachdem seine Träume dermaßen zerschmettert worden waren interessierte ihn das alles nicht mehr. Er hatte die Eigentumswohnung verkauft und wohnte in einer kleinen Garconniere, fünf Gehminuten von der Kinderintensivstation entfernt, die er bestenfalls zum Schlafen aufsuchte oder um nach der Post zu schauen. Mindestens siebzig Prozent seiner Zeit verbrachte er beim Kind.

Sebastian war gewachsen aber immer noch besorgniserregend zart. Blasser als die Wand. Still wie kein Säugling sein sollte. Er hatte Allergien entwickelt. Die griffen seine Lunge an. Ich verbrachte Tage und Wochen damit dieses kleine Organ zu beobachten, das nicht arbeiten wollte. Immer wieder mühte ich mich damit ab das kleine Kerlchen am Leben zu erhalten. Es sah mehrmals ziemlich düster für ihn aus und ich hatte ihn noch jedes Mal mit Schweiß und Herzblut vom Abgrund weg geholt. Veronika war am Operationstisch verstorben. Direkt vor meinen Augen. Sebastian würde ihr nicht folgen und wenn es das Letzte war was ich täte. Ich wollte dieses Kind eines Tages gesund aus dem Spital heraus spazieren sehen. Also kämpfte ich für ihn wie für einen eigenen Sohn, den ich als schwuler Mann wahrscheinlich nie haben würde.

Und ich konnte mir tausendmal einreden, es sei meine Pflicht als Arzt für jeden Patienten das Maximum heraus zu holen. Ich konnte mir einreden, ich täte es aus Respekt vor Veronika, deren Hand ich gehalten hatte als sie verblutet war. Ich konnte mir Gott und die Welt einreden. Lauter selbstlose gute Absichten. Die Wahrheit war, dass ich Nick gerne einmal wirklich lächeln sehen wollte. Ein echtes und von Herzen kommendes Lächeln. Ihn jeden Tag zu sehen bedeutete für mich, dass ich ihn kennenlernte und je mehr ich ihn kennenlernte, desto mehr mochte ich ihn. Je mehr ich ihn mochte, desto öfter dachte ich über ihn nach, und je öfter ich nachdachte, desto häufiger schlichen sich unpassende Gedanken mit rein. Ich nahm viel zu viel Anteil an seinem Leid und ließ es zu nahe an mich heran.

Dass er mir blind vertraute spürte ich. Das machte es nicht leichter. Täglich sagte ich mir, dass ich ein Mann sei, meine Gefühle im Griff habe, dass ich ein berufliches Verhältnis zu meinen Patienten hätte und dass Distanz das A und O wäre. Dann hörte ich wie jetzt gerade wie schlecht es ihm ging und meine ganzen guten Vorsätze wurden nieder gerissen. Was dieser Mann brauchte war Rückhalt. Echte Unterstützung und Verständnis.

Sein bester Freund ließ sich im Spital nicht blicken. Zu düster. Zu dramatisch. Er rief häufig an und hatte aufmunternde Anekdoten aus dem Alltag für Nick, die ihn auf andere Gedanken bringen sollten. Als ob dieser Vater seinen Sohn einfach beiseite schieben und am normalen Leben teilhaben könnte! Er brauchte einen Freund und ich wäre ihm so gern ein Freund gewesen. Aber was er noch mehr brauchte war ein kompetenter Arzt und ich riss mich zusammen und schluckte die Gefühle des Mitgefühls und der Zuneigung hinunter.

Dabei fühlte ich so sehr mit ihm. Egal ob es der beste Freund war oder die Schwiegermutter oder die Freundinnen von Veronika, sie alle redeten auf Nick ein. Jeder wollte seinen Teil beitragen, jeder wollte Beistand leisten, Trost spenden, Last abnehmen, aber was sie eigentlich taten war Last aufbürden. Ihre eigenen Ängste, ihre Sorgen und Befindlichkeiten, ihre zerbrochenen Träume, ihre Besorgnis...sie ließen alles an Nick aus. Er musste es ausbaden. Musste es sich anhören. Konnte sich kaum wehren. Denn sie meinten es ja gut. Funktionierte er nicht wie gewünscht weil er eine Trauerfeier organisierte, die ihnen nicht passte, sparte man nicht mit Vorwürfen.

Dabei war alles was er wirklich brauchte nur die Stille. Seine eigenen Gedanken waren so laut. Er konnte nicht noch die der anderen ertragen. Schweigen war heilsam für ihn und wir schwiegen oft gemeinsam wenn wir uns um Sebastian kümmerten. Es brauchte keine Unterhaltungen. Damit ging es ihm am besten. Er vertraute auf mich, dass ich ihm sofort sagen würde wenn sich etwas zum Guten oder Schlechten änderte. Die Stille zwischen uns, dieses stumme Vertrauen, war Balsam für seine Seele.

 

Bis, ja, bis die Schwiegermutter so wie eben herein schneite und die ganze Station nach ihrer Pfeife tanzen ließ. Tausend Fragen stellte. Die Aufmerksamkeit auf sich und ihre Trauer lenkte. Ich merkte ihm an, dass ihn das verrückt machte. Hätte es mich genauso an seiner Stelle. Alle hackten auf ihn ein mit gut gemeinten Ratschlägen. Aber ihn in Ruhe zu lassen kam ihnen nicht in den Sinn. Sein Umfeld fühlte sich an wie eine Horde Geier, die am lebenden Kadaver pickten.

Auch diesmal hatte ich keine rosigen Aussichten zu bieten als ich aufgesucht und gefragt wurde. Die Großmutter knetete ihre Hände als sie mir zuhörte. Ihre Lippen bebten. Zwei einsame Tränen verirrten sich auf ihre Wangen. Es wäre einfach sie als Drachen zu betrachten. Als Einmischerin, die alles noch komplizierter machte. Aber sie hatte ihre Tochter verloren. Seitdem kämpfte sie wie eine Amazone darum alles zusammen zu halten. Sie wollte am liebsten alle Scherben auf einmal aufkehren und zusammen kleben. Nick selektierte aus was wichtig war und was nicht, ließ den Rest vorerst liegen und konzentrierte sich auf das Wichtigste.

"Also schön." gab sie sich geschlagen und akzeptierte sowohl den unverändert schlechten Gesundheitszustand des Enkelkindes als auch die sehr bescheidene Trauerzeremonie für die Tochter. Ihr Herz war gebrochen als sie ging. Nick sah aus wie ein geprügelter Hund. Sie hatte ihm erfolgreich Schuldgefühle aufgeladen und ihm das Gefühl gegeben die geliebte Verstorbene nicht genug zu würdigen.

Wie sie es schaffte anderen ihren Willen aufzudrängen war schon fast bemerkenswert. Wenn sie auf der Station ankam, dann standen Pfleger und Krankenschwestern ihretwegen Kopf. Ich durfte mir kein Urteil erlauben, nur fand ich es trotzdem schlimm was sie Nick damit antat. Als hätte er nicht schon genug zu leiden. Andererseits war sie selbst gerade dabei mit bloßen Füssen über die heißesten Kohlen der Hölle zu laufen. Alles nicht einfach.

Ich nahm den zarten Winzling aus dem Brutkasten und legte ihn dem Vater einfach auf die Brust. Nick schaute mich zuerst zweifelnd an aber ich nickte aufmunternd. Dieser Kontakt auf der Mutter Brust war wichtig für einen Weltneuling. Man nennt das Bonding. Auf seine Mama musste Sebastian leider verzichten aber die nackte Haut von Papa war genauso warm und sollte ihm genauso vertraut werden. Gehalten zu werden konnte ihn ein bisschen stabiler machen. Er war jetzt zumindest so weit.

Ich schaute zu wie Nick sich das Hemd auf riss und das kleine Baby an die nackte Brust legte. Um seine Mundwinkel tauchte ein winziger Anflug von einem Lächeln auf. Er gab sich dem Moment ganz hin und ich konnte sehen wie dramatisch sich das auf die Bindung zu seinem Sohn auswirkte. Als würden sie einander erstmals ganz nahe kommen was ja auch so war. Physisch, mental, bis in jeden Winkel der Seele.

Es war ein Anblick, der sich verbotenerweise bei mir einbrannte. Männer, die ihre sanfte Seite zeigen, sind sehr erotisch. Hetero oder nicht. Sofort hatte ich tausend Stopschilder im Kopf und errichtete Absperrungen für meine aus dem Ruder laufenden Gedanken. Tabu. Tabu. Und noch dreitausend Mal Tabu. Was dachte ich mir bloß dabei? Wenn ich nur nicht so hartnäckig an ihn denken müsste! Verknall dich in keinen Patienten, sagte ich mir. Hannes, tu das nicht. Tu das bloß nicht. Ob ich den Fall abgeben sollte? Ich könnte wieder schlafen. Würde meine Gefühle in den Griff kriegen...

Nick streichelte Sebastians Köpfchen. Er schaute mit Tränen in den Augen zu mir hoch. "Ich bin so dankbar, dass wir wenigstens einen Arzt wie Sie haben." Da war mir klar, dass dies mein Schicksal war. Ich würde Sebastian nicht loswerden und damit auch Nick nicht. Was meine unpassenden Gefühle anging, die würde ich nieder knüppeln müssen. Der Sohn und vor allem der Vater brauchten mich.

 

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